Christiane Beyer
Joyse "3021" Vergangenheit ist Überleben
Aktualisiert: 13. Mai 2021

Leseprobe :
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Der Anfang
Es war das Jahr 3021, der Krieg war seit fünf Jahren vorbei. Aber die Schrecken, die Angst, der Kampf ums nackte Überleben tobten nicht weniger schlimm als der Krieg selbst. Ich, Joyse, ein junges Mädchen von achtzehn Jahren, stand auf dem Wachturm. Meine rotbraunen Haare waren zu einem Zopf geflochten und leuchteten im Sonnenlicht. Meine rehbraunen Augen hielten Ausschau nach meinem Bruder Kilian. Er war mit seinen zwanzig Jahren fast einen Kopf größer als ich. Seine schwarzen Haare und die graublauen Augen hatte er von Papa geerbt. Kilian war mit Narvik, seinem treuen Freund, in die Stadt gegangen, oder das, was von ihr noch übrig war.
Sie lag zwei Tagesmärsche von hier entfernt. In den Überbleibseln der Stadt wollten sie nach brauchbaren Gegenständen suchen, wobei es immer gefährlich war. Es hatten sich Banden gebildet, die durch das verwüstete Land zogen und alles niedermachten. Auch vor Kindern und Frauen machten sie keinen Halt. Der Krieg hatte sechs Jahre gedauert, erinnerte ich mich zurück, es blieb kein Stein mehr auf dem anderen. Es wusste niemand so recht, was der Auslöser gewesen war. Zum Schluss wusste keiner mehr wer gegen wen kämpfte. Alles wurde dem Erdboden gleichgemacht. Zum Schluss gab es keine Munition, keine Krankenhäuser, keinen Strom, keine Fabriken und Lebensmittel mehr. Aus dem Krieg wurde ein Kampf ums Überleben und wer nicht im Krieg umkam, verhungerte. Damals, vor Kriegsbeginn, dachte ich zurück, ich war sieben Jahre alt und mein Bruder neun, saßen mein Vater und Großvater tagelang über Landkarten.
Paps und Opa sahen in ihren Uniformen großartig aus, wenn sie nach Hause kamen. Mein Bruder Kilian sagte dann immer: „Wenn ich groß bin werde ich auch General, so wie Papa und Opa.“
Mutter und Großmutter packten Kisten mit Hausrat und Sachen, selbst wir als Kinder mussten mitmachen, und es herrschte eine düstere Stimmung. Meine Mutter kaufte robuste Lederschuhe in allen Größen. Ich dachte noch: „Diese hässlichen Schuhe will doch keiner anziehen.“
Und genau diese hatte ich jetzt an meinen Füßen und war froh darüber. Plastikteller und -tassen. Nie hatten wir damals davon gegessen, jetzt waren wir froh es zu haben. Auf dem Transport und auch so ging es nicht zu Bruch. Zu meinem siebten Geburtstag hatte ich keine Hightech-Puppe bekommen, sondern eine aus Stoff. Ich war enttäuscht gewesen. Meine Großmutter nahm mich in den Arm und sagte zu mir: „Sieh mal Joyse, mit der Puppe werden noch deine Kinder spielen können, sie kann nicht kaputt gehen.“
Und auch damit sollte sie recht behalten. In dieser Zeit kamen auch oft Dads Freunde, Brian und Victor, zu Besuch. Manchmal blieben sie bis tief in die Nacht hinein. Opa sagte, dass die drei in der Schule unzertrennlich waren. Manchmal brachten sie auch ihre Frauen mit. Kat war Ärztin und gehörte zu Brian, und Anna, die zu Victor gehörte, war Schneiderin. Sie hatte mir zur Schuleinführung ein Kleid genäht, in das ich ganz verliebt war. Jetzt ziehe ich kaum noch Kleider an, Hosen sind einfach praktischer. Beide Paare hatten keine Kinder. Anna war erst dreiundzwanzig. Ihr Mann Victor, Brian und Kat waren genauso alt wie mein Dad, zweiunddreißig. Auch brachte sie mir manchmal ein Pferdebuch mit. Ich hatte schon mit fünf Jahren Reitunterricht und liebte Pferde. Dann waren mein Vater und Großvater verreist und auch Dads Freunde kamen nicht mehr. Sie kamen auch nicht wieder, als in den Nachrichten von Krieg gesprochen wurde und die ersten zerstörten Städte gezeigt wurden. Das war das Startsignal für Mama und Oma. Innerhalb einer Woche hatten wir alle, noch restlichen, Sachen in Mamas Auto geladen. Einen Großteil hatten Papa und Opa schon mitgenommen.
In der Nacht fuhren wir dann los. Mama und Oma wechselten sich beim Fahren ab. Abends machten wir Halt und übernachteten in einem Hotel. So ging das mehrere Tage. Vom Krieg war noch nicht viel zu merken, da die Gegend immer unbewohnter wurde. In der Kleinstadt Sopol trafen wir dann Papa.
Nachdem Papa unser Auto verkauft hatte, gingen Mama und Oma Lebensmittel, Seife und Waschmittel kaufen. Am nächsten Morgen fuhren wir mit Papas Auto wieder los in Richtung Berge. Nach einem weiteren halben Tag waren wir da. Als Erstes sah ich zwei Blockhäuser, die mit Tarnnetzen abgedeckt waren. Auf dem Hof arbeitete Opa mit Brian und Victor an einem großen Zaun. Wir gingen in ein Blockhaus.
Es hatte eine große Küche mit einem großen Esstisch, an dem zwölf Stühle standen, ein kleines Wohnzimmer und im Obergeschoss drei Zimmer, sowie einen Keller.
Ich musste mir ein Zimmer mit meinem Bruder teilen. Mama und Papa hatten ein Zimmer, sowie Oma und Opa. Im anderen Blockhaus wohnte Brian mit seiner Frau Kat, als auch Victor mit seine Frau Anne. Dort gab es nur eine kleine Küche, dafür aber ein Arztzimmer. Papa sagte, wir müssen jetzt viel lernen, ich bei Mama und Oma, mein Bruder Kilian draußen bei Opa und Papa. Von früh bis zum Mittagessen, danach zwei Stunden Unterricht. Den Rest des Tages bis zum Abendbrot konnten wir machen, was wir wollten. Nur immer in der Nähe von Erwachsenen. Ich begriff mit meinen sieben Jahren noch nicht, wie sich alles von einem Tag auf den anderen änderte.
Am Morgen feuerte Oma zuerst den Küchenofen an, um heißes Wasser zu bekommen. Wir gingen uns zum Bach waschen und Zähne putzen. Ich hasste das, es war kalt. Nach dem Frühstück wurde gewaschen, gekocht und in einem Steinofen gebacken. Auch die zwei anderen Frauen, Kat und Anne, arbeiteten bis Mittag mit. Nach dem Mittag, das wir alle zusammen aßen, gab uns Opa Unterricht in Lesen, Schreiben und Rechnen. Zweimal pro Woche bestand der Unterricht aus Kampfsport. Nachmittags erkundete ich unser Camp. Wenn Papa mit unserem kleinen Windhund, den er gekauft hatte, in den Wald ging, waren Kilian und ich dabei. Er brachte Bruno, so hieß der Hund, das Jagen bei.
„Sehr bald werden wir auf Bruno angewiesen sein, wenn wir etwas zu Essen haben wollen“, sagte er zu uns.
Bruno lernte schnell. Schon bald brachte er seinen ersten Hasen. An diesem Tag hörten wir auch zum ersten Mal die Bomber über unseren Wald fliegen, und die Explosionen.